Drastischer Verlust: Astronomen haben erstmals die Gashülle unserer nächsten Nachbargalaxie vermessen – und Überraschendes entdeckt. Denn der Halo der Großen Magellanschen Wolke ist nur ein Zehntel so groß wie für eine solche Galaxie normal, wie Daten des Hubble-Weltraumteleskops belegen. Schuld an diesem Halo-Verlust ist wahrscheinlich unsere Milchstraße. Deren größere Schwerkraft und Dichte hat der Magellanschen Wolke im Laufe der Zeit den größten Teil ihrer äußeren Gashülle entrissen.
Die Große Magellansche Wolke (LMC) ist der nächste Nachbar unserer Milchstraße – und ihr Opfer. Denn im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte hat die größere, massereichere Milchstraße ihrer kleineren Nachbarin schon unzählige Sterne und sogar mehrere Zwerggalaxien gestohlen. Zudem prognostizieren Astronomen, dass beide Galaxien in rund zwei Milliarden Jahren miteinander kollidieren könnten – für die Große Magellansche Wolke wäre dies wahrscheinlich das Ende.
Erste Halo-Vermessung bei unserem Nachbarn
Jetzt haben Astronomen eine weitere „Untat“ der Milchstraße entdeckt: Sie hat der Großen Magellanschen Wolke fast ihren gesamten Halo weggerissen. Festgestellt hat dies das Team um Sapna Mishra vom Space Telescope Science Institute (STScI) in Baltimore, als die Forschenden erstmals die Gashülle dieser Galaxie vermessen haben. Weil der Halo von Galaxien gerade in seinem dünneren Außenbereich nicht sichtbar ist, griffen sie dabei zu einem Trick: Sie nutzten ferne Quasare als Messhelfer.
Dafür analysierten die Astronomen Daten des UV-Spektrometers am Hubble-Weltraumteleskop und suchten nach spektralen Signaturen von 28 hinter der Großen Magellanschen Wolke stehenden Quasaren. Wenn deren Licht durch die Außenbereiche der Galaxie scheint, hinterlässt das Halo-Gas messbare Spuren im Spektrum. Anhand dieser Daten lässt sich ermitteln, wie dicht die ionisierte Gashülle der Magellanschen Wolke ist.
Neun Zehntel der Gashülle fehlen
Das überraschende Ergebnis: Der Halo der Großen Magellanschen Wolke ist viel kleiner als für eine Galaxie ihrer Masse normal. Die Gasdichte ihrer Plasmahülle fällt demnach schon bei rund 55.000 Lichtjahren stark ab, wie Mishra und ihre Kollegen ermittelten. Damit hat der Halo der Großen Magellanschen Wolke nur ein Zehntel der erwarteten Ausdehnung. Der Galaxie fehlt damit ein Großteil des Gasvorrats, der unter anderem für die Sternbildung nötig ist.
„Eine kleinere Galaxie hätte dies nicht überstanden: Sie hätte kein Gas mehr übrig und wäre nur noch eine Ansammlung alter, roter Sterne“, erklärt Mishra. „Aber die Große Magellansche Wolke hat es wegen ihrer Masse geschafft, noch zehn Prozent ihres Halos zu behalten.“ Das reicht aus, um die aktive Sternbildung in der Galaxie aufrechtzuerhalten.
Milchstraße als galaktischer „Föhn“
Doch wo ist das restliche Halo-Gas geblieben? Schuld an diesem Verlust ist höchstwahrscheinlich die Milchstraße, wie die Astronomen erklären. Beide Galaxien bewegen sich so nah aneinander vorbei, dass die Schwerkraft und Dichte der massereicheren Milchstraße wie ein Rammbock wirken: „Die Milchstraße erzeugt vor sich einen so starken Druck, dass dieser den größten Teil der Halo-Masse weggeblasen hat“, erklärt Koautor Andrew Fox von der Johns Hopkins University.
„Man kann sich die Milchstraße wie einen gigantischen Föhn vorstellen, der das Gas der herannahenden Großen Magellanschen Wolke wegbläst“, so Fox weiter. „Dadurch ist ihr nur noch ein bisschen Gas geblieben – der kleine kompakte Rest, den wir jetzt kartiert haben.“
Knapp entkommen – bis zur großen Kollision
Immerhin: Ihren kleinen Resthalo könnte unsere Nachbargalaxie noch eine ganze Weile behalten. Denn zurzeit bewegt sich die Große Magellansche Wolke wieder langsam von der Milchstraße weg. Deren Einfluss lässt daher immer weiter nach. Erst in rund einer Milliarde Jahren – so die Prognosen von Astronomen, wird die Magellansche Wolke wieder umkehren und auf das Milchstraßenzentrum zusteuern – dann wahrscheinlich auf direktem Kollisionskurs.
„Unsere Ergebnisse geben damit wertvolle neue Einblicke in die komplexe Geschichte der Milchstraße und ihrer nahen Satellitengalaxien“, kommentiert Carole Mundell von der europäischen Weltraumagentur ESA. „Zudem ist dies ein fantastisches Beispiel dafür, welche bahnbrechende Forschung noch immer mit dem Hubble-Teleskop möglich ist.“ (Astrophysical Journal Letters, accepted, Preprint 2024; doi: 10.48550/arXiv.2410.11960)
Quelle: Space Telescope Science Institute